Prof. Dr. Werner Thiede, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern und Publizist
Das Vierfache reformatorische „Allein“ als Orientierungshilfe evangelischer Ethik
Was macht christliche und speziell evangelische Ethik eigentlich im Kern aus? Es muss da um mehr gehen als um „Humanismus“ oder allgemeine Bestimmungen von „gutem Verhalten“ etwa im Sinne von „Nächstenliebe“, wie sie fast jede Religion in der einen oder andern Weise empfiehlt. Das Spezifische evangelischer Ethik lässt sich auffinden im Koordinatensystem der vier reformatorischen „Allein“-Stellungen: Gelten soll allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift, allein Christus. Erst im Miteinander dieser vier – selbst also nicht „allein“ stehenden – Bestimmungen kann das Profil eines wirklich evangelisch zu nennenden Konzepts von Ethik erkennbar werden.
Die Kernbestimmung lautet solus Christus: Jesus als der eine Sohn Gottes ist das Zentrum und der Sinngeber christlichen Glaubens. Was ethisches Handeln in seinem Sinn, in der Kraft seines Geistes ausmacht, ist nur in der lebendigen Beziehung zum auferstandenen Gekreuzigten[i] erkennbar: Hier allein erwachsen innere Freiheit, frohmachende Hoffnung und ernste Liebe. Doch um welchen „Christus“ geht es? Es gibt durchaus unterschiedliche Antworten auf diese Frage – nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch auf dem weiten Gebiet von Esoterik, Sektierertum und anderen Religionen[ii]. Damit nicht neue Gesetzlichkeiten oder abstruse Regeln in die Ethik Einzug halten, bedarf es zur Klärung der Christus-Frage der anderen drei reformatorischen Bestimmungen.
Wer Christus ist, darüber gibt maßgeblich die Heilige Schrift Auskunft. Das in Jesus Christus Mensch gewordene Wort Gottes kann es nicht geben ohne Bezug auf sein geschichtliches Erscheinen. Die Heilige Schrift als geschichtliche Urkunde, die dieses Erscheinen aus größter Nähe zu beschreiben und von daher auch am authentischsten zu deuten weiß, ist deshalb unverzichtbare Größe im Reigen der reformatorischen Fundamentalprinzipien. Das reformatorische Prinzip sola scriptura darf allerdings nicht mit einer fundamentalistischen Bibelauffassung verwechselt werden. Gerade gegenüber der päpstlichen Autorität in der katholischen Kirche wollte die von Martin Luther betonte Geltung der Heiligen Schrift nicht einen „papierneren Papst“ kreieren, sondern die Autorität Christi selbst kirchlich wieder deutlicher ins Zentrum rücken. So war und ist das Sola-scriptura-Prinzip im Protestantismus immer dem theologischen Prinzip solus Christus zugeordnet, ja im Streitfall untergeordnet. Erst wo diese Zu- und Unterordnung fallen gelassen ist, ja das solus Christus womöglich umgekehrt dem sola scriptura untergeordnet wird, droht innerhalb des Protestantismus fundamentalistisches Denken.
Wiederum wird das solus Christus reformatorischerseits genauer beschrieben durch die beiden Prinzipien sola gratia und sola fide. Allein die Gnade soll gelten – das heißt: Jesus Christus ist nicht irgend eine hohe göttliche Größe, auch nicht ein dogmatisches Prinzip, sondern in Person die Eröffnung der Barmherzigkeit Gottes als dessen unüberbietbar radikalen Zuspruchs. Ein barmherziger Umgang mit anderen Menschen, ja mit der zu bewahrenden Schöpfung[iii] ist von daher ethisch allemal geboten. Und allein der Glaube kann retten; das bedeutet entsprechend: Niemand kann und muss die Liebe Gottes sich verdienen. Vielmehr bleibt sie ein Geschenk, das allein in jener Haltung der Dankbarkeit empfangen werden kann, die Glaube heißt. Insofern ist es das wiederum Verständnis bedingungsloser Gnade allein, das die Bedeutung Jesu Christi für uns wirklich erschließt. Erst ein reines, in diesem Sinn radikales Verständnis der Liebe Gottes erschließt, was evangelische Ethik im Kern ausmacht.
Prof. Dr. Werner Thiede lehrt außerplanmäßig Systematische Theologie an der FAU Erlangen-Nürnberg und arbeitet als Pfarrer der ELKB in Regensburg. Sein neuestes Buch heißt „Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen“ (München 2015). Weiteres unter www.werner-thiede.de.
[i] Vgl. Werner Thiede: Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007.
[ii] Vgl. Werner Thiede: Wer ist der kosmische Christus?, Göttingen 2001.
[iii] Dazu z.B. Werner Thiede: Mythos Mobilfunk, München 2012; ders.: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 2015